Wir sind noch da!
- Silvia Gillardon

- 23. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Juli

„Bei dieser Aussicht würde ich depressiv!“ Damit meint meine Besucherin Maria weniger meine Meersicht Richtung Süden als vielmehr den Blick nach Norden aus meinem Schlafzimmerfenster. Genau gegenüber, an der Wand des Nachbarhauses hängen sie nämlich, die Manifesti funebri, die weißen, schwarz umrandeten Todesanzeigen. Und täglich kommen neue dazu, während die alten, zerfetzt von Wind und Regen, etwa alle drei Monate in dicken Schichten zusammengekleistert, zu Boden sinken und definitiv „entsorgt“ werden.
Maria lehnt sich aus dem Fenster. Und prompt, wie auf Verabredung, biegt der Messaggero, der städtische Plakatanschläger, mit seinem Fahrrad in unsere Straße ein. Der Mann mit der rosa Baskenmütze beherrscht sein Metier.
Täglich, immer am späten Vormittag, lehnt er sein Vehikel gegen die Mauer des Nachbarhauses, kontrolliert mit routiniertem Blick die Verfalldaten der Todesanzeigen. Dann zieht er schwungvoll den Eimer mit dem Leim vom Gepäckträger, überkleistert die „abgelaufenste Anzeige ohne Skrupel mit einem grossen Pinsel, zaubert aus der Rolle, die er unter dem Arm geklemmt hat, die aktuellste Todesfallmeldung, necrologio genannt, hervor und klatscht sie auf das Vorgängerplakat.
„Mamma mia!“ stöhnt Maria. „Che crudele!“
Doch der Mann kümmert sich nicht um Marias Skrupel. Ungerührt radelt er davon, während er rhythmisch mit dem Kopf wackelt. Was er wohl lauscht aus seinen Kopfhörern? Bocellis „con te partiro“ oder doch eher Ramazottis „Cose della vita”?
«Da sind sie schon!» Aufgeregt deutet Maria auf die paar neugierigen Alten, die sich unten versammelt haben, um als Erste die morbide Botschaft zu entziffern. «Mir wäre das peinlich!» Hastig putzt sie sich ihre Brille, dann lehnt sie sich noch weiter aus dem Fenster. «Enrico Dulbecco steht da. Und darunter sein Spitzname, Becco. Kanntest du den? »Ich schüttle den Kopf. «89 ist er geworden. Na ja, da kann er sich ja nicht beklagen. Sehr viele trauernde Hinterbliebene hat er auch nicht. Eine Tochter Lucia, eine Enkelin Camilla. Eine Witwe steht nicht auf der Liste. Die ist ihm vermutlich vorausgegangen.»
Ist Sensationslust, ist soziales Engagement der Grund, dass sich die Leute hier versammeln? «Memento mori» murmle ich und Maria nickt: «Die waren nicht dumm, die alten Römer, meine Vorfahren. Ein kluger Satz: Bedenke, dass du sterblich bist».
Sie poliert nochmals ihre Brillengläser, starrt angestrengt auf das Plakat, schüttelt enttäuscht den Kopf. «Es ist immer das Gleiche. Auf diesen Fotos sind die Gesichter der Dahingegangenen kaum zu erkennen. Ein Schnauz, buschige Augenbrauen, ein wettergegerbtes Gesicht - und das soll dieser Becco sein? Beinahe alle Alten hier im Quartier sehen doch so aus. Und was bekommen wir sonst für Informationen? Ein Name, ein Spitzname, das Alter, vielleicht ein Beruf, die Namen von ein paar Angehörigen, die trauern, vielleicht ein Verein, eine Partei." Maria brummt etwas Unverständliches. «Die Nachbarn, die ihn vermissen. Die Nachbarn! Wenn ich das schon höre!»
Unten vernimmt man Gelächter. «Das Leben geht also weiter. Das ist doch gut. Vielleicht freuen sie sich da unten einfach, dass sie noch da sind. Vielleicht entsteht Hilfsbereitschaft gegenüber den Hinterbliebenen. Respekt gegenüber dem eigenen, zerbrechlichen Leben.» Ich schliesse das Fenster.
«Träum weiter! Respekt?» Sie verdreht die Augen. «Diese Leute sind doch einfach nur froh, dass ihr Name noch fehlt auf den Plakaten. Dass sie nochmals davongekommen sind. Das sind Cocodrilli».
«Cocodrilli? Ich kenne diesen italienischen Ausdruck eigentlich nur aus dem Journalismus. So nennt Ihr doch die präventiven Nachrufe, die über Prominente verfasst und in den Zeitungsarchiven laufend aktualisiert werden?» «Genau. Und wie nennt Ihr denn auf Deutsch unechte Tränen? Etwa nicht auch Krokodilstränen?» «Aber es ist ja nichts Schlechtes daran, dankbar zu sein dafür, dass sie nochmals davongekommen sind. Dass sie noch ein paar Jährchen weitermachen und vielleicht sogar noch Einiges besser machen können.» Maria zuckt die Schultern. «Ich bleibe dabei: Für mich wäre deine Aussicht ein Graus. Jeden Tag diese Schichtwechsel beobachten zu müssen!»
«Schichtwechsel?» Langsam dämmert mir, was sie damit meint: Die Papierschichten und die Todesfälle. «Sehr doppelsinnig!» lache ich. «Ich selbst bin eigentlich dankbar über diese täglichen Schichtwechsel. Sie rütteln mich wach. Und dass unmittelbar neben der Todesanzeigentafel dort unten noch zwei sehr symbolische Verkehrsschilder stehen, werte ich ebenfalls als Zeichen.» Ich deute nach hinüber. Aha! Verstehe. Einbahnstrasse und Richtungsweiser. Sehr philosophisch. Aber könnten wir jetzt bitte einen Schichtwechsel machen und endlich aufs Meer schauen?»
23.7.25 cr.



Liebe Silvia, gerne lese ich deine Beiträge zur italienischen Lebensart.
Liebe Grüsse aus Laufenburg. Nika