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Tutti

  • Autorenbild: Silvia Gillardon
    Silvia Gillardon
  • 21. März
  • 4 Min. Lesezeit

«So, und jetzt sei endlich mal ehrlich, Kleine. Wen aus unserer Familie hast du wirklich geliebt?» Francos Gesicht rückt bedrohlich näher. Die Wolke von Grappa ebenso. Claudio zieht Franco am Ärmel zurück. «Machst du auf Inquisition? Spinnst du? Lass unsere Cousine zufrieden!» «Cousine! Franco knurrt. «Cousine, wenn ich das schon höre! Sie will doch gar nichts wissen von uns. Der Einzige aus der Verwandtschaft, der bei ihr zählt, ist doch dieser unsägliche Scharlatan!!»

Noch selten war ich so froh, aus einem Traum aufzuwachen. Was hat sich denn meine Fantasie da bloss zusammengereimt? Claudio, Franco… leben die überhaupt noch? Nie mehr habe ich etwas gehört von diesen entfernten Cousins. Claudio war der Enkel eines Grossonkels namens Lorenz, Franco der von Grosstante Babette. Verwirrt setze ich mich auf. Die siebenköpfige Geschwisterschaft meiner Grossmutter aus dem Engadin bringe ich noch knapp zusammen. Da waren Vittorio, der Älteste, der den Bauernbetrieb im Engadin übernommen hatte. Ernesto, der Zweitgeborene, der dank der finanziellen Hilfen seiner Schwestern studieren konnte. Der dann als Chefbuchhalter bei einer grossen Firma der Versuchung nicht widerstehen konnte. Nur für kurze Zeit war er zwar hinter Gittern, aber diese reichte, um seinen Ruf auf immer zu zerstören. Meiner Grossmutter Babette und ihren zwei Schwestern Alma und Vera stand nur die Karriere in der Gastronomie offen, so wie allen jungen Frauen im Tal: Saaltochter, Serviererin, Kellnerin, Köchin, Zimmermädchen… Doch dann gab ja noch einen Bruder, den Jüngsten. Tutti!

Tutti nannten ihn alle. Eigentlich hiess er Arthur. Aber das hatte im im Tal niemanden interessiert, genauso wenig wie die Gründe, die diesen geheimnisvollen, unsteten Mann umtrieben. Tutti war alles. Bergführer, Skilehrer, Zuckerbäcker, Charmeur… aber vor allem… «Dein Liebling war ein Scharlatan!» hatte Franco vorhin im Traum behauptet. «Und lüg jetzt nicht: Das stimmt!»

Vielleicht hat Franco Recht. Aber was kann ich dafür, dass ich Tutti so sehr geliebt habe? Meinen Grossonkel, der nur wenige Jahre älter war als meine Mutter. Von Anfang an hatten wir einen Draht zueinander. Ein wunderbares, zutreffendes Wort für die Verbindung, die ich empfand. Stachelig, aber stark. Er wusste, wo es weh tat in meiner kindlichen Seele. Persönlich kennenlernen konnte ich Tutti bei einem ersten Besuch in Brüssel. Nachdem er seine Heimat im Engadin und später auch seinen Job als Zuckerbäcker in Nizza aufgegeben hatte, lebte er in dieser wunderschönen Stadt und genoss dort schnell einen hervorragenden Ruf als Handleser und Lebensberater. Man flüsterte, er sei sogar von der Königsfamilie konsultiert worden.  Sicher ist: Vielen Menschen hat er den Weg gewiesen, empfohlen oder gedeutet. Vielleicht sehe ich das heute zu sehr durch die rosarote Brille. Vielleicht war Tutti wirklich ein Scharlatan. Aber keinen Menschen habe ich so verehrt. Er reagierte, als ich eine naive Zwölfjährige war, auf meine Briefe mit mehrseitigen, liebevollen Antworten. Blieb ich vor einem Schaufenster stehen, versuchte er, aus meinem Blick herauszulesen, was mich begeisterte, ging in den Laden und kaufte mir das Objekt der Begierde. Er führte mich als Teenager in edle Restaurants und meinte auf meine skeptischen Blicke über die exotischen Gerichte: "Du musst all das nicht essen, nur probieren. Wenn es dir nicht gefällt, kommt es nie mehr auf deinen Teller."

Zugegeben: Tutti hat mich gewaltig verwöhnt. Aber verehren tat ich ihn aus einem anderen Grund. Wegen seiner vorbehaltlosen Zuwendung. Weil er mich einbezogen hatte in seine Welt, ernst genommen, eingeweiht. Mich, die kleine, naive Nichte. Zum Beispiel über seine Freunde, die Algerier. Tutti besass ein Häuschen in Nizza, hoch über der Altstadt. Zusammen mit meiner Mutter war ich öfters dort eingeladen.  Sehr zum Leidwesen meines Vaters, der sich schwertat, seine Frau und seine Tochter den Fahrkünsten dieses «Belgiers» anzuvertrauen, wüsste doch jeder, dass Belgier weder des Passfahrens mächtig seien noch überhaupt je eine Fahrprüfung absolviert hätten. Dies war eines der wenigen Male, wo meine Mutter sich jeweils durchgesetzt hatte. «Wir fahren!» Nizza! Das Häuschen lag traumhaft in einem Oleandergarten, etwas erhöht über der azurblauen Meeresbucht. Der Zugang verlief durch eine malerische Grotte, eine romantische kleine Tropfsteinhöhle. Jeden Abend kochten wir eine neue Variante von Ratatouille und spielten Karten.

Einmal lud Tutti mich in eine elegante Parfummanufaktur in Grasse ein und liess mich die wunderbarsten Duftkreationen auswählen lassen. Als ich eines Abends beim Spiel als schlechte Verliererin in einem Wutanfall meine Handtasche mit all den kostbaren Parfums auf den Boden schmiss, meinte er nur: «Wir fahren morgen nochmals nach Grasse und ersetzen deine Mimosen- und Rosenessenzen.»

Doch zurück zu den Algeriern. Meine Mutter wusste von der mysteriösen Karriere ihres Onkels als Zuckerbäcker in Nizza, und sie war mitnichten stolz darauf. Aber Tuttis dubiose Vergangenheit war plötzlich wieder zum Greifen nah. «Ich verbiete dir, dass du dich mit deinen alten Algerienfreunde triffst! Sonst lasse ich mein Kind nicht mit dir hinunter an die Stadt.» Tutti rollte mit den Augen, aber er nickte brav: «Kein Problem».

Und wir, Tutti und ich, spazierten jeden Tag hinunter in die Stadt. «Ein bisschen Kultur!» hüstelte er. Natürlich war die Kultur auch da. Aber der Höhepunkt der «Kultur» waren die Cafés, in denen seine uralten, algerischen Freunde warteten. Für mich war es wunderbar. Die dunkeläugigen Männer rochen nach Tabak, Minze und Arak. Sie sprachen unverständliche Sätze, brachten mich zum Lachen und reichten mir honigtriefende Süssigkeiten. Mein Tutti war ihr Held. So glücklich habe ich alte Männer seither nie mehr gesehen. Ich war stolz, eingeweiht zu sein. Und wenn meine Mutter fragte, wo wir gewesen seien, erzählten wir irgendwas von plage opéra, vom marché des fleurs oder gar vom Negresco, und Tutti und ich zwinkerten uns verschwörerisch zu.

«Wie hat es dieser Scharlatan bloss geschafft, dass du von ihm immer noch so begeistert bist», hatte Franco in meinem Traum vorhin verständnislos gerufen.  «Der Typ ist doch schon lange tot!» Natürlich hat er Recht. Mein geliebter Tutti ist gestorben. Aber tot ist er für mich noch lange nicht. Eigentlich nie!»

 

21.3.2025

 

 


 
 
 

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