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  • AutorenbildSilvia Gillardon

Der Floh



Wer hat mir bloss diesen Floh ins Ohr gesetzt? Beziehungsweise in meiner italienischen Ferienwohnug. Stopp, Korrektur, falscher Titel: Es müssen zwei Flöhe gewesen sein, mindestens, und zwar in Form eines sehr aktiv verliebtes Pärchens.


Doch von Anfang an:


«Eine Katastrophe!» schreit meine Tochter vor zwei Wochen ins Telefon.

«Was ist passiert?» Sie hätten doch längst am Ziel angekommen sein müssen. «Hat euer Auto eine Panne? Habt ihr den Schlüssel verloren?», erkundige ich mich besorgt.

«Nein! Aber Flöhe! In deiner Wohnung wimmelt es von diesen Biestern! Und sie springen uns von überall her an, diese ekelhaften Blutsauger.»

Ich hole tief Luft. «Das kann doch gar nicht sein!» Leicht beleidigt fuhr ich fort: »Ich habe, bevor ich in die Schweiz zurückgefahren bin, extra für euch in der ganzen Wohnung Staub gesaugt, alles desinfiziert. Ich weiss doch, wie penibel ihr seid. Kein einziger Floh hat mich angefallen!»

«Sibi i i i!» unterbrach mich meine Tochter. Alarmstufe Eins also! Wenn sie meinen Spitznamen so demonstrativ in die Länge zieht, dann meint sie es ernst. «Soll ich dir ein Foto schicken? Ich habe eines dieser Biester aufgenommen und vergrössert. Die Diagnose ist eindeutig. Es ist ein Katzenfloh. Und deine letzten Feriengäste hier waren Punto und Topolino. Vielleicht solltest du deine beiden Fellmonster mal kontrollieren!»

«Meine Kater haben keine Flöhe!» protestiere ich, fahre aber trotzdem misstrauisch mit den Fingern durch das dichte Fell von Punto, der nichtsahnend auf meinem Schoss liegt. Auch Topolino wird kontrolliert: Kein einziger verdächtiger schwarzer Punkt ist zu sehen. «Sauber!» verkündige ich triumphierend, prüfe dann aber doch sicherheitshalber meine Unterschenkel bis zu den Knien auf verdächtige Spuren, weiss man doch, dass diese Biester extrem hochspringen können. Irgendetwas von Kölner Dom hatte ich mal gelesen. «Vielleicht ist der getigerte Streuner, der jeweils neben der Haustür auf einem Vespasattel nächtigt, mal ins Treppenhaus eingebrochen und hat die Flöhe auf dem Eingangsteppich deponiert. Fest steht: Schweizer Flöhe sind das nicht. An meinen Beinen finde ich keine einzige Bisswunde.»

«Schön für Dich!» knurrt meine Tochter. «Aber eins ist sicher: Hier können wir auf keinen Fall bleiben. Da muss ein Kammerjäger her!»

«Kammerjäger? Gibt es nicht, in Italien», behaupte ich vorbeugend. Denn wo sollte ich dort einen Spezialisten auftreiben, jetzt, in der Hochsaison? Und wie hiesse dieser Beruf überhaupt? Sicher nicht Cacciatore di pulci. Vor mir tauchen schreckliche Bilder auf von vermummten Gestalten, die mit Gasmasken und mit Schläuchen und Kabeln bewaffnet durch meine giftvernebelte Wohnung stolpern …

Ich sehe vor mir, wie meine Tochter genervt die Augen verdreht. Der Ehemann ungeduldig im Türrahmen, fluchtbereit, komm, wir hauen ab, und die Kinder auf dem sicheren Balkon die Horrormeldung in ihre social media Kanäle tippend: Wir haben Flöhe! Rufschädigend. «Und wo sollen wir jetzt hin?» unterbricht sie ungeduldig meine Gedanken.

«Natürlich ins Hotel! Auf meine Kosten, versteht sich», versuche ich, sie zu besänftigen.

«Ins Hotel?» jault sie. «Du bist gut!» (weiss ich). «Was glaubst du, was ich in der letzten Stunde gemacht habe? Ich habe alle Plattformen abgegrast … das letzte Bett in deinem geliebten Ligurien ist ausverkauft. Es ist Hochsommer. Dazu Samstag. Wir sind zu viert. Schlimmer geht nimmer.»

«Moment!», beruhige ich sie. Auch ich wähle mir die Finger wund, denn schliesslich habe ich Beziehungen in meiner Zweitheimat. Dachte ich wenigstens. Alle Hotels ausgebucht. «Ma, Signora…», diesen vorwurfsvollen Ton kann ich schon gar nicht mehr hören. Entweder muss meine Familie also auf der Strasse schlafen oder wird von Flöhen ausgesaugt. Mein Schuldbewusstsein überwältigt mich. Ich bin eine schlechte Mutter. Mit schlechten Katern. Ich habe schlechte Flöhe angelockt.

«Medizin?» frage ich schliesslich vorsichtig. Ich weiss, wie meine umweltbewusste Tochter denkt. Das Wort Gift ist absolutes Tabu. «Geh doch in eine Tierhandlung und frag nach einem effektiven Spray. Dann sprühst du alles ein: Polster, Matratzen, Betten, und ihr geht gemütlich Abendessen. Danach könnt ihr die armen, toten Flöhe nur noch zusammensaugen und habt euren Frieden.»

Stille am anderen Ende. «Du meinst Gift?»

Ich räuspere mich. «Na ja, es gibt auch umweltschonende Produkte. Ich würde ja gern helfen und zu euch rasen, aber die Fahrt dauert sechs Stunden; dazu kommen der Gotthardtunnel und die Baustellen.»

«Vergiss es!»


***


Vergiss es, das ist die gewissensbelastende Abschiedsfloskel meiner Tochter, die ich schon seit jeher kennen. Die Floskel. Ich traue mich nicht, sie anzurufen. Schon zehn Uhr. Elf Uhr.

Dann, endlich klingelt das Telefon. «Wir sind fix und fertig, aber wir gehen jetzt schlafen. Und zwar hier. Wir haben das giftigste aller giftigsten Sprays versprüht, die Matratzen abgesaugt und ganz viele weisse Leintücher gekauft. Es sieht aus wie in einem Gespensterschloss. Aber so sehen wir j e e e d e n Floh! So entkommt uns keiner.» Ihre Stimme klingt drohend. Ich getraue mich kaum, ihr gute Nacht zu wünschen.


***


Eine Woche später wage ich mich selbst in die Höhle der Flöhe. Sie begrüssen mich mit einem Freudensprung, haben sich fleissig vermehrt. Meine Tochter hat ihnen inzwischen Namen gegeben und die Familie lebt mit Emanuele, Ettore, Mario, Lucia, Assunta und Giovanna angeblich in friedlicher Koexistenz. Auch wenn meine Tochter die Staubsaugersäcke verächtlich verbrennt, die Polster mit fiesem Dampf behandelt, so scheint sie doch irgendwie verliebt in die Biester zu sein, und die Kinder sind, Google sei Dank, fast begeistert über die Störenfrieden. «Es gibt sogar Flohzirkusse, in denen die Tiere kleine Kutschen ziehen oder ein Karussell in Schwung bringen oder Gewichte heben. Und kennst du den Flohwalzer?» Auf dem Notebook klimpern sie mir die simple Hüpf-Melodie auf simulierten Klaviertasten vor. Wie herzig!


Dann reist sie ab, die Familie. Überlässt mich dem Schicksal beziehungsweise den Restflöhen. Eisern verharre ich in meiner Wohnung. Von ein paar Winzlingen lasse ich mich sicher nicht vertreiben. Meine Träume sind zwar wenig erbaulich, denn auch wenn ich die Leintücher mit dem Vergrösserungsglas abscanne vor dem Zubettgehen, die Ungeheuer könnten dennoch jederzeit aus einer finsteren Höhle auftauchen und zuschlagen.


***

Es ist später Abend. Frisch geduscht trete ich aus dem Bad auf den weissen Marmorboden. Alles ist clean. Da juckt es auf meinem Fuss. Zwei schwarze Punkte. Ein Liebespaar! Wie dreist ist das denn? «Ciao, ragazzi!» rufe ich, während ich Emanuele und Assunta am Balkongeländer abstreife. «Guten Flug!» Wenn Sie hochspringen können, dann sollten sie doch auch abstürzen können. Endlich ins Bett! Aber was hockt da dreist auf meinem weissen Kopfkissen? Lucia und Ettore? Ich trage das Kissen ebenfalls auf den Balkon, verbarrikadiere nachher die Schiebetür.


Für heute ist Dracula-Sendepause. Doch halt, waren da nicht noch Mario und Giovanna? «Notte!» rufe ich in drohendem Tonfall unters Bett. «Und wenn ihr nicht Ruhe gibt, dann…»

Täusche ich mich, oder hat irgendjemand «Was dann?» geflüstert? Oder hat mir jemand einfach nur einen Floh ins Ohr gesetzt? Vielleicht sogar ein Pärchen?


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