Die Skyline unserer kleinen Stadt wäre perfekt. Wäre! Was für ein Anblick: Ein sanfter Hügel, der sich malerisch ins Meer hinauslehnt, gesattelt mit einem perfekten Dom, ein paar mittelalterlichen Palazzi und, darum das „Wäre“, im Vordergrund unser Schandfleck, der Wolkenkratzer. Dreist, formlos, beige, banal steht er breitbeinig und schamlos vor der malerischen Kulisse .
Die Touristen schütteln den Kopf: Wie konnte so ein Scheusal genehmigt werden? Die Einheimischen zucken genervt mit den Schultern: „Der steht schon ewig da. Schön ist er nicht, zugegeben, aber in den sechziger Jahren galten andere Überlegungen als bauliche Anmut. Da zog es unsere Jungen aus dem Hinterland alle in die Stadt oder zumindest in die Peripherie. Je höher, je besser. Bloss weg aus den feuchtklammen, unbequemen Steinhäusern – modernes Wohnen mit Lift und Zentralheizung war es, was angesagt war. Und immerhin wohnen darin immer noch gut und gern zahlreiche Familien.“
„Es ist wirklich ein Verbrechen“, murmelt Marga, meine Freundin und lässt ihre Kamera sinken. „Aus keiner Perspektive kann man eure Stadt vernünftig fotografieren, ohne dass dieses Scheusal die Kulisse dominiert.“ Sie lehnt sich zurück, damit der Kellner ihr nochmals etwas Vermentino nachschenken kann. „Andrerseits: Die Sicht aus den Wohnungen müsste sensationell sein. Ein voller Meerblick, und dies von Sonnenaufgang bis Untergang. Dazu die einmalig schöne Altstadt. Riesige Balkone.“ Sie seufzt tief. „In den Sechzigern hat man ja auch an Raumhöhe und Grösse nicht gespart. Die Wohnungen müssten eigentlich toll sein.“ Sie nimmt einen kräftigen Schluck und wischt sich nachdenklich den Mund ab.“ Eigentlich wäre es schon genial, dort oben zu wohnen.“
Ich muss schmunzeln. Wusste ich doch, dass dieser Satz kommt. „Zufällig weiss ich, dass eine der Wohnungen verkauft wird. Ich kenne den Makler. Willst du …“
Ich brauche gar nicht weiterzureden. Natürlich will sie.
Schon am nächsten Tag ruckeln wir in dem altertümlichen Lift himmelwärts. Die Wohnung riecht nach Candeggina, dem üblichen Bleichmittel, und die Terrazzofliesen sind blitzsauber. „Die Trennwand zwischen Wohnküche und Wohnzimmer müsste entfernt werden“, beschliesst Marga. „Und diese Ungetüme genauso.“ Sie deutet auf die hohen, dunklen Schrankwände. „Aber all das sind Peanuts, angesichts dieser Aussicht.“
Neugierig treten wir auf die riesige Terrasse. Der Makler weigert sich, uns zu folgen. Er leide unter Höhenangst. Verständlich, angesicht der fahrlässig montierten, niedrigen Absperrung, denke ich, und weiche erschrocken einen Schritt vom Geländer zurück. Marga kennt da keine Furcht und lehnt sich über den Abgrund. „Ein Wahnsinn!“ ruft sie. „Atemberaubend! Das Meer zur Linken, zur Rechten … die ganze Küste liegt vor dir.“
Ich wende ein, dass die Wohnung doch noch ziemlichen Renovationsbedarf hat. Die Elektroinstallation, das Bad … Aber hoffnungslos!
Sie hört mich nicht, sondern starrt verzückt in die Weite und murmelt immer nur: „Das Meer, das Meer!“ Sie strahlt. Der Makler ebenfalls.
Nach einer Stunde sitzen wir wieder unten in der Bar, Marga natürlich mit Blick auf ihr Traumhaus. „So schlimm ist der Bau ja eigentlich gar nicht,“ meint sie schliesslich. Ich weiss, was sie jetzt nicht hören möchte und schweige. Ich werde doch nicht unsere langjährige Freundschaft riskieren wegen einer dämlichen Wohnung. „Stell dir vor, wir könnten dort oben auf der Terrasse sitzen und herunterschauen.“ Ich ziehe meine Augenbrauen hoch. „Und?“ „Tu doch nicht so versnobt. Wenn man dort drinnen wohnt, ist es einem doch egal, wie das Haus von Aussen ausschaut. Das realisiert man doch gar nicht mehr.“ „Aha! Und das sagt ausgerechnet die grösste Ästhetin, die ich kenne.“ „Dieser Bau ist ein ehrlicher Zeitzeuge. Dazu muss man stehen.“ Ich kann nicht mehr länger auf dem Mund sitzen und hole tief Luft. „So schnell kann es also gehen. Nur weil die liebe Marga dort residieren will, hat sich der Schandfleck von gestern plötzlich in ein architektonisches Meisterwerk verwandelt. Die Passanten werden entzückt hier unten stehenbleiben und dir zuwinken.“ „Deinen Zynismus kannst du dir sparen.“ Marga seufzt. „Wenn nicht ich dort einziehe, wird es jemand anderes tun. Wärst du dann zufrieden? Der Klotz würde deswegen nicht gesprengt. Es wohnen nämlich noch andere Menschen dort. Glückliche sogar.“
Ich lächle tapfer. Ganz so verkehrt sind ihre Argumente natürlich nicht. Es würde tatsächlich nichts ändern, wenn sie dort nicht einziehen würde. „Du hast Recht. Und ausserdem: Unsere Freundschaft ist mir mehr wert als ein bisschen Ästhetik.“
Nachdenklich starren wir in unsere Gläser. Plötzlich beginnt Marga schallend zu lachen. Es schüttelt sie förmlich. Ich schaue sie besorgt an. Und endlich, zwischen zwei Lachkrämpfen, deutet sie auf das Hochhaus und stösst hervor: „Es ist und bleibt auch durch die rosaroteste Brille betrachtet trotzdem ein grauenhafter Schandfleck. Und mein Traum ist leider ein Albtraum. Lass uns hier verschwinden, bevor ich einen Fehler mache!“
댓글